Erfahrungen bei der Auswahl eines (Pedelec-)Lastenrads - Lastenräder mit Kindersitz versus Kindersitz mit Pedalen


Hallo zusammen, wer Nachwuchs zum Anlass für den Erwerb des ersten Lastenrad nimmt, steht ja mittlerweile vor einer erfreulich großen und stetig wachsenden Auswahl an Lastenrädern. Aber wer die Wahl hat, hat die Qual. Da meine Frau und ich uns wirklich gründlich informiert und viele Räder probegefahren sind, möchte ich hier gerne teilen, was wir ausprobiert haben, was wir gelernt haben, und warum wir am Ende das Velo Lab Kàro für das für uns beste Lastenrad auf dem Markt hielten und erworben haben.

Vorab noch die Bemerkung, dass klar war, dass es ein Pedelec werden sollte, also mit elektrischer Unterstützung bis 25 km/h. Lastenräder ohne Unterstützung machen voll beladen insbesondere am Berg weniger Spaß. S-Pedelecs mit Unterstützung bis 45 km/h gibt es meines Wissens nach ohnehin nur von Riese & Müller, also erübrigt sich hier ein Vergleich und die Einschränkungen z.B. bei Radwegen wollten wir uns nicht einhandeln.

Erste Frage - Welches Konzept?


Die erste Frage ist sicherlich, ob man ein ein- oder dreispuriges Lastenrad (zwei bzw. drei Räder) haben will. Dreispurige Räder sind vielleicht besser bei extrem hohen Lasten. Wir sind nur ein einziges dreirädriges Butchers & Bicycles Cargorad gefahren. Wegen der ungewohnten Lenkung und der niedrigen Kurvengeschwindigkeiten (da man sich nicht in die Kurve legen kann) haben wir diesen Ansatz sofort ausgeschlossen.

Räder mit Lademöglichkeit hinten haben uns für ein Kind ebenso nicht überzeugt: Kindersitz heißt hoher Schwerpunkt, also steht das Rad weniger sicher, gerade wenn der oder die Kleine im Stand im Sitz herumturnen sollten. Weiter ist die Unterhaltung während der Fahrt schwieriger und man hat den Knirps nicht im Auge, ebenso wenig die Gegenstände, die eventuell während der Fahrt aus dem Rad geworfen und dann vermisst werden könnten (z.B. die Trinkflasche). Dazu muss man Einkäufe doch wieder in Packtaschen verstauen und daher häufiger umladen, als wenn man die Sachen einfach in eine Kiste legen kann. Das eine probegefahrene Rad mit Cargobereich hinten, ein Yuba Mundo, hat uns allerdings darauf gebracht, dass ein Nabenmotor im Hinterrad unser Wunschantrieb ist, dazu mehr unten.

Zu dreispurigen Lastenrädern oder solchen mit Lademöglichkeit hinter dem Fahrer können wir also nicht viel berichten, aber die Entscheidung war klar - wir wollten ein einspuriges Lastenrad mit großem Hinterrad, kleinem Vorderrad und Lademöglichkeit zwischen Vorderrad und Fahrer, ein Long John also.

Long John - Nur welches?


Es gibt sicherlich viele, die mit einer Familienkutsche mit ein paar Pedalen als Alibi dran glücklich werden. Bitte seht mir die wertenden Adjektive nach, es handelt sich hier nur um meine subjektive Meinung nach Abgleich der Räder mit unseren Anforderungen. Wir sind ziemlich viele Räder probegefahren und hatten von Anfang an vor, das Rad auch als Alltagsrad weiterzufahren, wenn der Kleine selbst radeln kann. Jedes der nachfolgenden Räder ist schlüssig konstruiert und findet sicherlich seine Anhänger (da freue ich mich auf die Diskussion, dafür ist so ein Forum schließlich da).

Unsere Anforderung war, ein Rad zu haben, mit dem man auch Kinder transportieren kann und nicht Kinder zu transportieren und dabei noch Rad zu fahren. Verkürzt gesagt muss man sich entscheiden zwischen einer (Kinder-)Transportbox mit Pedalen und einem Lastenrad mit Kindersitz.

Kategorie 1 - Erst die Box, dann das Rad


Die holländischen Klassiker wie Babboe (oder auch Bakfiets) muten mit ihren Holzkisten mittlerweile eher nostalgisch an, sind dafür bewährt und sehr geräumig. Das Babboe City hat sich mangels Rahmensteifigkeit, wegen seines hohen Gewichts und der unsportlichen Sitzposition disqualifiziert. Die abgerundete Holzbox ist jedoch recht hübsch. Ist eher für die, die sonst auch gerne auf einem Hollandrad durch die Gegend cruisen, nix für uns.

Die moderneren Kontruktionen setzen auf geschäumte Boxen aus EPP (expandiertes Polypropylen) und versprechen Vorteile wie Komfort durch z.B. eingeformte Armlehnen für die Kleinen oder eventuell etwas höhere Sicherheit bei einem Unfall.

Das Urban Arrow Family ist sicher ein prima Rad, um Kinder zu transportieren. Die Box aus geschäumten Kunststoff plus Metallrahmen dürfte insbesondere die ansprechen, die die Sicherheit an allererste Stelle setzen und dem die restlichen Parameter hintenanstellen. Das Fahrgefühl - insbesondere mit Enviolo-Automatikschaltungsnabe - erinnert allerdings eher an eine elektrische Vespa, da ist der Radweg vom Fahrer gefühlt ganz schön weit entfernt. Dazu hat es 50kg Eigengewicht , ist also bleischwer, was selbst alltägliche Aktionen wie dem dichten Anstellen an eine Wand durch kurzes Anheben und seitliches Versetzen des Hinterrads ziemlich mühsam macht. Wenn der Akku leer ist, kommt beides zusammen: Schlechter Wirkungsgrad der Enviolo plus hohes Gewicht. Das Rad fährt sich ohne elektrische Unterstützung zäh wie Kaugummi - also immer schön den Akku laden und die Reichweite richtig einschätzen. Wenn das Rad auch eine Wochenendtour durch die Vogesen können soll, würde ich jedenfalls ein anderes wählen.

Das Cube Cargo Sport Dual Hybrid war da etwas ansprechender. Shimano Deore Kettenschaltung und Bosch Mittelmotor führten zu mehr "Fahrradfeeling". Es fiel allerdings aus der Wahl, weil die Entscheidung gegen ein Rad mit fester Box schon getroffen war.

Das relativ neue Ca Go macht einen sehr guten Eindruck, dieses Rad war allerdings zur Zeit unserer Probefahren noch nicht verfügbar. Box, Sitze, Verdeck, Rahmen, Details wirken durchdacht konstruiert. Allerdings wird hier auch eine Enviolo-Automatiknabe wie beim Urban Arrow verwendet, so dass ich hier die gleichen Zweifel hätte, ob sich das Rad noch wirklich wie ein Fahrrad anfühlt und ob das Rad auch ohne Motor (mit leerem Akku) auch bergauf noch wirklich fahrbar ist.

Auch nicht gefahren, aber vielleicht noch interessant in dieser Kategorie: Carqon mit Tür in der EPP-Box, Gazelle Makki mit heruntergezogenen Seiten. 

Solche Räder mögen für viele die erste Wahl sein. Suchte ich nach einem Rad in diesem Segment, würde ich mit einem der letztgenannten drei starten. Wir wollten jedoch ein Rad, mit flexiblerem Aufbaukonzept, also keines, bei dem die Box integraler Bestandteil des Designs ist.

Kategorie 2 - Erst das Rad, dann die Box


Jetzt war klar, dass es ein Rad dieser zweiten Kategorie werden sollte, sportlich und mit flexibler Aufbaumöglichkeit (nur Grundträgerplatte, Holzkiste, Alu-Box etc.). Auch im Gewichtsvergleich liegen diese Räder tendenziell vorne, was das alltägliche Handling erleichtert.

Der Klassiker hier ist natürlich das Larry vs Harry Bullitt. Ein gutes Rad, auch schnell, mit einer Vielzahl an Schaltungsoptionen zu bekommen (von Shimano Alfine Naben über Kettenschaltungen bis zu Pinion-Getrieben). Die Erstgenannten mit Mittelmotor, Pinion mit Hinterradnabenantrieb. Dazu gibt es verschiedene Aufbauten und Regenverdecke (auch von Drittherstellern). Soweit ein Kandidat. Wäre da nicht die Lenkung mit fast senkrechtem Steuerrohr, durch das sich der Lenker nicht wie bei einem gewöhnlichen Rad dreht, sondern in der Ebene rotiert und die zu einem ungewohnten Lenkgefühl führt - und dazu, dass das Rad sehr direkt lenkt. Geschmackssache - mich erinnerte das an klassische Race-MTBs aus den 1990er-Jahren (à la Klein Attitude oder Rocky Mountain Vertex), meine Frau fand das aber übertrieben nervös und legte Veto ein.

Das Riese & Müller Packster 70 war wegen des steilen Lenkwinkels und das R&M Load 75 zusätzlich wegen der Vollfederung aus dem Rennen. Die Vollfederung belastet die Waage und möchte gewartet werden. So haben wir uns nach dieser Überlegung gegen eine Federung zumindest am Hinterrad entschieden. Bei dem Rahmen um die Ladefläche waren wir allerdings geteilter Meinung: Einerseits bietet der niedrige Rahmen die Option zweier unterschiedlicher Kisten mit niedrigen und hohen Seitenwänden, andererseits kostet dieser Ansatz Gewicht bzw. Stabilität. Schließlich liegt insbesondere das Packster preislich am oberen Ende der Vergleichsgruppe. Auch gute Räder, nur unseres nicht dabei.

Das Kargon (mittlerweile CargoFactory) One kam dann trotz des ebenso fast senkrechten Lenkwinkels ziemlich dicht dran an das, was wir uns vorgestellt haben. Relativ leicht, schnell, wendig. Die Seilzuglenkung scheint hier die Nervosität zu kompensieren, sie wirkt wie ein dezenter Lenkungsdämpfer. Und sie hat den Vorteil, dass es keine relevante Begrenzung des Lenkeinschlag wie bei Lenkungen mit Zug-/Schubstange gibt. Man kann das Vorderrad also mehr als 90 Grad einschlagen und damit an jeder Stelle wenden, die so breit ist wie das Rad lang. Das ist beim Rangieren wirklich nützlich. Am Schluss gab hier den Ausschlag gegen das Rad allerdings die Nichtverfügbarkeit eines Regenverdecks für die Box und die Optik des Rads (zu viele Vierkantrohre inklusive der Kettenstreben). Wir waren nicht vollends überzeugt und hatten einfach keine Lust, selbst ein Verdeck zu fertigen.

Mit Ausnahme des Bullitt mit Pinion-Getriebe verfügen alle vorgenannte Räder über einen Mittelmotor (Shimano Steps oder Bosch), die allerdings in Lastenrädern ihre Vorteile nicht alle ausspielen können (z.B. Gewichtsverteilung), deren Nachteile aufgrund des höheren Gewichts von Lastenrädern zum Teil jedoch verstärkt werden (wie höherer Verschleiß). Ein Hinterradmotor benötigt auch keine proprietäre Ausformung am Tretlager, sondern kann auch durch einen Motor eines anderen Herstellers ausgetauscht werden oder auch auf eine Fahrrad ohne Hilfsantrieb zurückgebaut werden. Radler*innen, die ein Pedelec mit Continental-Mittelmotoren haben, waren sicher nicht erfreut darüber, dass sich Conti überraschend aus dem Geschäft zurückgezogen hat und den Service nur bis 2022 aufrechterhalten will. Wenn nicht ein anderer Hersteller die absehbare Lücke im Ersatzteilmarkt mit passenden Ersatzmotoren schließt, sind die Besitzer solcher Rahmen bei einem Motordefekt entweder auf Restbestände angewiesen oder müssen sich dann wohl mindestens von ihrem Rahmen verabschieden. Schließlich ist das Laufgeräusch bei einem Hinterradmotor kaum wahrnehmbar, daher war auf unserer Wunschliste ein Hinterradnabenmotor.

Unsere Wahl


Am Schluss vereinte ein Velo Lab Kàro Long alle unsere Anforderungen: Leicht, lässt sich auch ohne Unterstützung sehr schnell fahren, wendig, tolle Lenkung, optisch sehr gefällig (Geschmackssache...), flexibler Aufbau, Regenverdeck erhältlich, Kettenschaltung oder Pinion, Hinterradantrieb. Die Seilzuglenkung bietet hier auch alle beschriebenen Vorteile, und da der Winkel der Steuerrohres hier ähnlich wie bei einem üblichen Rad ist, kommt hier noch das gewohnte Lenkfeeling dazu.

Dazu hat der Rahmen durch das Design mit dem abgesenkten Oberrohr eine schön niedrige Durchstiegshöhe, ist durch die Lösung mit dem zusätzlichen Dreieck aber dennoch schön steif und das Sattelrohr bleibt lang genug für eine Sattelstütze, die sich weit genug verstellen lässt, um den Wechsel zwischen zwei Fahrer*innen mit (geschätzt) 1,60m und 1,90m Körpergröße problemlos zu ermöglichen (so groß ist der Unterschied zwischen mir und meiner Frau nicht ganz, aber bei uns bleibt noch einiges an Verstellmöglichkeit nach unten und oben und für sehr große Fahrer*innen gibt es auch einen XL-Rahmen).



Auch bei Kettenschaltung kommt hier ein Hinterradnabenmotor zum Einsatz. Der verwendete Neodrives Z20 bietet großartigen Fahrspaß: Mächtig Schub bei feinem Ansprechverhalten, kaum hörbar da durch den Direktantrieb im Gegensatz zum Mittelmotor ein Getriebe entfällt. Zudem hat er den Vorteil, dass Kette und Schaltung nicht im motorisierten Teil des Antriebsstrangs liegen und damit weniger verschleißen. Während bei Standardrädern moniert werden könnte, dass sich durch den Hinterradmotor der Schwerpunkt nach hinten verschiebt, spielt das bei einem Long John durch den größeren Radstand keine wesentliche Rolle. Ebenso irrelevant für uns war der theoretische Nachteil, dass keine Nabenschaltung mehr verbaut werden kann - unsere derzeitigen Favoriten sind ohnehin entweder eine klassische Kettenschaltung oder ein Pinion-Getriebe (das andersherum nicht mit einem Mittelmotor kombiniert werden kann).

Schließlich das Plus, dass das Rad in Deutschland handgefertigt wird und nicht Taiwan-"Massenware" wie z.B. das Bullitt ist (wenn man bei Lastenrädern überhaupt davon sprechen will). Wir sind das Kàro im Juni 2020 direkt beim Hersteller Velo Lab in Bremen probegefahren, einer Zwei-Mann-Firma, bei der die beiden Gründer noch alles selbst wissen und können. Aus einer oder zwei geplanten Stunden wurde schließlich der ganze Freitagnachmittag inklusive Werkstattführung und Fachsimpelei über konstruktive Details. Super die beiden, auch der Werkstattbesen selbstgeschweißt (Portraits hier, hier und hier). Und so ließen sich auch noch Details modifizieren, etwa weitere Gewindeösen hinzufügen, und einzelne Komponenten detailliert spezifizieren.

Weil das Kàro schnell ist, wurden etwa statt der serienmäßigen Shimano Deore MTB-Kurbeln (38-28 Zähne) die Shimano GRX Gravel-Kurbeln (48-31 Zähne) verbaut, um die Übersetzung zu verlängern. Mit „schnell“ meine ich wirklich, wirklich schnell - nicht nur im Pedelec-Unterstützungsbereich bis 25 km/h, sondern auch sehr gerne darüber. Wer das für ein Luxusproblem hält, sollte das Rad einmal fahren. Man muss kein Top-Athlet sein, um häufiger mit über 30 Sachen unterwegs zu sein. Deore XT-Vierkolbenbremsen nebst zugehörigen Brems-/Schalthebeln sorgen für genauso schnelles Stoppen wie Beschleunigen und Schalten. Danke an dieser Stelle für die Geduld mit meinen Sonderwünschen!

Noch ein paar Worte zu Federgabeln


Wenn man auch sonst mit einem ungefederten Rad zurecht kommt und einigermaßen vorausschauend über Bordsteine und andere Stufen fährt, ist die Federung am Vorderrad ein verzichtbares Extra, auch wenn es natürlich in der einen oder anderen Situation ein Plus an Fahrsicherheit bieten könnte (z.B. wenn ein Radweg von der Straße schräg über den Bordstein auf einen Seitenstreifen oder den Fußweg geführt wird).

Von den oben genannten Kandidaten sind Ca Go, Riese & Müller und Kargon mit Federgabeln ausgestattet. Da die Federgabeln für 20-Zoll-Vorderräder derzeit allesamt weder aus dem Ober- noch aus dem Spitzenklasse-Regal stammen (gilt für alle Lastenräder), haben wir uns für die Wartungsarmut und Langzeitstabilität einer Starrgabel entschieden.

Fazit


Zum Glück haben wir alle Alternativen getestet. Ich kann jedem nur nahelegen, ebenfalls ausgiebig probezufahren und dann anhand der eigenen Bedürfnisse selbst zu entscheiden. Viel Freude beim Tritt in die Pedale!


Kommentare